30. Big Sur International Marathon

26.04.2015

Gänsehaut im Marathon ist keine Seltenheit. Besonders am Start und im Ziel ist die Aufregung und Freude kaum auszuhalten. Doch Big Sur ist anders! Hier packt Dich die Gänsehaut schon mehrere Tage vor dem Start und weicht nicht, bis Du endlich die wohl schönste Finisher-Medaille der Welt um den Hals hängen hast. Grund hierfür ist unter anderem, dass der Big Sur International Marathon sehr häufig und zu Recht als der schönste Marathon der Welt bewertet wird. Aber erst mal der Reihe nach ...


Vorgeschichte

Als meine Schwester im Frühjahr 2014 entschied, als Au Pair für ein Jahr in die USA zu gehen, war für uns - die Speedy Family - sehr früh klar, dass wir sie in der zweiten Hälfte ihres Aufenthalts besuchen möchten. Für mich persönlich stand außer Frage, dass ich den Familienurlaub gern mit meinem ersten Marathon in den Staaten verknüpfen will. Sobald feststand, dass die Reise meiner Schwester am 11. August 2014 nach San Francisco geht, fing meine Suche nach einem geeigneten Wettkampf in Kalifornien an. Und diese Suche endete so schnell, wie sie begonnen hat ... die Lösung und gleichzeitig der „Traum schlafloser Nächte“ lautete: BIG SUR!

Jeder Marathonläufer, der sich gelegentlich durch Laufberichte klickt, ist früher oder später auf den Big Sur International Marathon gestoßen - da bin ich mir sicher! Dieser findet immer am letzten Sonntag im April statt und erfreut sich jedes Jahr großer Beliebtheit, denn die insgesamt 4.500 Startplätze für die Königsdisziplin sind schon im Sommer des Vorjahres nach wenigen Minuten vergeben. Gestartet wird der Lauf an der Big Sur Station inmitten von Redwood-Wäldern und verläuft durchgängig auf der vollständig gesperrten Highway 1 Richtung Norden (ehemals Highway 101). Nach etwa 8 Kilometern verlassen die Läufer den Wald und genießen fortan den Blick auf den rauen Pazifik, während auf der rechten Seite grüne Hügel und Berge in die Höhe ragen. Der insgesamt sehr hügelige Kurs endet schließlich in Carmel nahe Monterey, etwa 200 km südlich von San Francisco.

All diese Fakten sprechen für sich und so entschied ich mich im Juni 2014 dazu, dieses Experiment zu wagen und mich um einen der begehrten Startplätze zu bemühen. Aufgrund der ungebremsten Nachfrage wurde erstmals ein neues Anmeldeverfahren angewendet. Ursprünglich wurde das Anmeldefenster für alle Startplätze an einem genauen Tag und zu einer bestimmten Uhrzeit geöffnet, was häufig zur Überlastung der Server geführt hat. Außerdem beklagten viele „Pechvögel“, dass sie zu dem Zeitpunkt verhindert waren. Für die Jubiläumsausgabe 2015 sollte es besser laufen. Und so gab es an vier verschiedenen Wochentagen im Juli zu vier verschiedenen Uhrzeiten jeweils 625 Startplätze zu vergeben. Nach diesen vier Terminen sollte eine Lotterie mit Auslosung von insgesamt 500 Startplätzen erfolgen. Eine sechste Anmeldemöglichkeit erhalten außerdem 300 Charity-Läufer, die statt der üblichen $150 Startgebühr ganze $300 aufwenden müssen (zur Hälfte für einen guten Zweck natürlich). Die restlichen 1.200 Plätze blieben für die Anwohner von Monterey County, für Militärdienst-Leistende und für diejenigen, die sechs Tage vor dem Big Sur Marathon auch den Boston Marathon in Angriff nehmen wollten (Boston 2 Big Sur Challenge).

Mein erster Versuch erfolgt am 15.07.2014 um 19 Uhr deutscher Zeit. Schon eine halbe Stunde zuvor saß ich vor dem Computer und aktualisiert alle paar Sekunden das Anmeldeportal in der Hoffnung, ich könne meine Daten eintippen. Nur eine einzige Sekunde nach 19 Uhr dann die Enttäuschung: „Die Anmeldung ist geschlossen!“ ... Waaas? War das ein Fehler oder war ich wirklich zu spät? Nach der Enttäuschung folgte die Hoffnungslosigkeit, dass es beim zweiten, dritten oder vierten Mal auch nicht funktionieren könnte.

Vier Tage später am 19.07.2014 um 20 Uhr deutscher Zeit folgte mein zweiter Versuch. Diesmal saß auch meine Schwester neben mir, die an ihrem Laptop ebenfalls bereit war, meine Anmeldedaten einzutragen. Während sich bei mir pünktlich um 20 Uhr ein unbekanntes Fenster öffnete, rief meine Schwester mir nur zu: „Bei mir klappt das nicht!“ ... „Pssscht jetzt!!!“ rief ich zurück. Gleichzeitig kamen mir die ersten nervösen Schweißperlen auf der Stirn. „Bin ich drin im Anmeldeprozess oder nicht?“ fragte ich mich die nächsten ein-zwei Minuten, während ich wie hypnotisiert meine persönlichen Daten in die vielen freien Felder eintippte. Auf Rechtschreibfehler achtete ich schon gar nicht mehr. Welche T-Shirt-Größe? - Mir doch egal, ich will NUR diesen Startplatz, mehr nicht! ... Und dann kam der Moment, in dem ich nur noch die Kreditkartennummer meines Vaters für die Überweisung der Startgebühr plus Servicegebühr ($150 + $10) eintippen musste. „War’s das?!?“

JJJAAAAAA...!!! ... und erst dann nahm ich wieder meine Umwelt wahr ... JJJUUHHUUUU... !!!

So laut wie ich auf unserer Terrasse herumsprang, wusste an diesem Samstagabend sicher das ganze Dorf Bescheid. Und nur 10 Minuten später erhielt ich die Bestätigungs-Mail, die dann auch prompt auf Facebook landete:

In den folgenden Wochen und Monaten genoss ich jeden langen Trainingslauf und schwärmte nicht selten von den umwerfenden Bildern, die ich in diversen Marathonbüchern, Blog-Einträgen und YouTube-Videos gesehen habe. Das Internet war voll von Big Sur Impressionen, sodass ich wusste, worauf ich mich einzustellen hatte. Unter anderem wuchs mein Respekt vor den vielen Hügeln auf der Strecke, aber dazu später mehr.

 

Meinen Eltern war die Vorfreude auf ihren ersten Urlaub in den USA ebenfalls anzusehen. Sie informierten sich über die Städte und Sehenswürdigkeiten, die wir während unseres kurzen Familienurlaubs besuchen wollten, und buchten unter anderem die Unterkünfte. Ganz wichtig war natürlich auch der Flug, den wir am 25.11.2014 für 593 € pro Person für Hin und Zurück buchten. Für den relativ günstigen Preis mussten wir auf der Route von Hamburg nach San Francisco aber leider den Umweg über Istanbul in Kauf nehmen. Das eine Umsteigen und die Reisedauer von 18,5 Stunden sollten allerdings zu dritt kein Problem sein.

Von Weihnachten bis Mitte April verging die Zeit dann wie im Flug. Ehe man sich versah, mussten die Koffer gepackt werden, und am 17.04.2015 standen wir schon kurz nach 03:30 Uhr morgens hellwach in meiner 1-Zimmer-Wohnung ... naja, hellwach ist etwas übertrieben, aber die Vorfreude auf das Wiedersehen mit meiner Schwester war deutlich zu spüren. Um 04:30 Uhr liefen wir zur nächstgelegenen S-Bahn-Station und fuhren in nur 14 Minuten zum Hamburger Flughafen. Dort angekommen, gaben wir unsere drei großen Koffer zwei Stunden vor Abflug auf und erhielten unsere Boarding Pässe. Eine knappe Stunde später schrieben wir Nicole eine letzte Gute-Nacht-WhatsApp-Nachricht aus Deutschland, da es bei ihr noch Donnerstagabend war. Und um 07:30 Uhr starteten wir mit etwas Verspätung Richtung Istanbul.

Nach knapp 3 Stunden Flugzeit folgte am Flughafen der türkischen Metropole eine knapp zweistündige Umstiegszeit, in der wir noch ein wenig gegessen und gechillt haben. Bevor es zum Boarding ging, wurden unsere Personalien dieses Mal wesentlich gründlicher geprüft. Unter anderem wollten die Verantwortlichen ganz genau wissen, was wir für wie lange in den USA machen wollten. Selbst das genaue Rückflugdatum wollten sie bescheinigt bekommen. Zum Glück hatten meine Eltern alle nötigen Dokumente griffbereit im Handgepäck.

Der Weiterflug nach San Francisco dauerte anschließend noch 13:20 Stunden, in denen wir etwas geschlafen und viel gegessen haben. Zur Unterhaltung diente ein Touchscreen in der Kopflehne des Vordersitzes und so spielte ich viel Tetris und schaute zwei Filme, die es sogar auf Deutsch gab. Termine und Stress gab es im Flieger plötzlich nicht mehr - der Urlaub hat begonnen!

Kurz nach 17 Uhr landeten wir dann endlich am westlichen Ende der USA und freuten uns immer mehr auf Nicole. Leider dauerte die ganze Ankunftsprozedur mit Gesichtsscanner und Fingerabdrücken fast anderthalb Stunden, sodass wir erst um kurz vor 19 Uhr Ortszeit aus dem gesicherten Bereich rausgehen und Nicole endlich in den Arm nehmen konnten. Das Wiedersehen tat sooo gut, obwohl wir regelmäßig über Skype telefoniert und uns fast täglich geschrieben haben.

Nachdem unser Mietwagen für die nächsten 10 Tage (ein weißer Nissan Sentra) abgeholt war, fuhren wir eine knappe Stunde nach Mill Valley, wo meine Schwester die letzten 8 Monate als Au-Pair gewohnt und gearbeitet hat. Unter anderem überquerten wir die Golden Gate Bridge, die bei Dunkelheit leider nicht mehr so gut zu sehen war, da sie nur spärlich beleuchtet war. Im Haus der Gastfamilie begrüßte uns dann eine gesprächige Gastmutter, das ältere der beiden Mädchen (die Jüngere hat zum Glück schon geschlafen) und zwei bellende Hunde. Erst nach einiger Zeit konnten wir endlich die bereits lauwarme Familienpizza essen, die wir uns kurz vor Ankunft unterwegs gekauft haben.

Nach einer langen und gesprächigen Nacht mit meiner Schwester waren wir am nächsten Tag immer noch alle etwas angeschlagen. Aber unser straffes Sightseeing-Programm musste starten und erlaubte keine Verzögerung! Auf Details unseres Familienurlaubs werde ich im Weiteren nicht mehr eingehen und lasse dafür ein paar Bilder sprechen.

Grob zusammengefasst besuchten wir die Städte San Francisco, Las Vegas, den Grand Canyon, Los Angeles inklusiv Hollywood, Beverly Hills und Santa Monica, bevor es dann Richtung Big Sur und Moterey ging, wo der Marathon stattfinden sollte.

Freitag, 24.04.2015

Nach exakt einer Woche in all diesen wunderschönen Orten machten wir uns am Freitagmorgen, den 24. April, auf den knapp 500 Kilometer langen Weg nach Monterey. Auf halber Strecke verließen wir den schnellen Highway und wechselten auf den Pacific Highway 1, um uns mit schönen Ausblicken auf den rauen Ozean dem Ziel zu nähern. Wie erwartet zog sich die restliche Fahrt endlos hin, da unzählige Stopps für Fotos eingelegt wurden.“ Zum Glück!“ kann man da nur sagen, denn diese Region am westlichen Ende der westlichen Welt ist kaum in Worte zu fassen. Auf dem 160 km langen Weg zwischen San Luis Obispo und Big Sur Station, wo am Sonntag der Marathonstart erfolgen sollte, machten wir insgesamt zehn Foto-Pausen.

Etwa 65 Meilen (105 km) südlich von Big Sur Station gab es die erste Ankündigung des Big Sur Marathons in Form einer großen Digitalanzeige am rechten Straßenrand. Wie sich später herausstellte, war das der letzte Ort vor dem Marathon-Startgelände, an dem eine Straße rechts ab ins Landesinnere führte. Die gesamte restliche Distanz von 65 Meilen führte also lediglich über den Highway 1. Autofahrer, die sich am Sonntagmorgen auf diesen Abschnitt begaben, wussten also, was sie tun, oder hätten am Ende umkehren müssen.

Nur 6 Meilen später (also 95 km südlich von Big Sur Station) ereignete sich eine weitere Überraschung. Am linken Straßenrand sahen wir in Küstennähe einen vollen Parkplatz mit vielen Menschen, die pausenlos am Fotografieren waren. Noch ahnten wir nicht, was uns erwarten würde, aber wir „riskierten“ einen erneuten Stopp. Als wir aus dem Auto stiegen und uns der starke Wind wieder ins Gesicht blies, fiel uns ein Schild auf, auf dem ein See-Elefant abgebildet war. Die Aufregung stieg: Sollten wir hier ein paar See-Elefanten in freier Wildbahn zu sehen bekommen? ... „ein paar“?!? ... es waren mehrere TAUSEND Tiere, die es sich auf einem Küstenabschnitt im Sand gemütlich gemacht haben und ihr Leben genossen. Hier und da boxten sich ein paar Männchen mit ihren Köpfen und Hälsen, ansonsten war der Rest eher unbeeindruckt. Wir dagegen waren mehr als beeindruckt - wow!

Nach einer 10-minütigen Pause und weiteren 13 Meilen auf der Straße folgte 46 Meilen (74 km) südlich von Big Sur Station eine ganz kurze Pinkelpause. Danach schafften wir wieder nur 7 Meilen, bevor der nächste Aussichtspunkt für ein windiges Familienfoto gefunden war. Da es durch den starken Wind, der aus dem Norden kam, aber zunehmend kühler wurde, verkürzten sich nun auch die Foto-Pausen. Nach weiteren 4 Meilen im warmen Auto entdeckten wir dann aber wieder einen gut besuchten Parkplatz auf der linken Straßenseite. Grund dafür waren diesmal keine See-Elefanten, sondern kleine graue Eichhörnchen, die alles andere als menschenscheu waren. In der Hoffnung auf Futter kamen sie aus allen Felsspalten und verschwanden meist genauso schnell wieder. Nach etwa 10 Minuten mussten wir aber auch diesen Ort hinter uns lassen, um noch einigermaßen zeitlich voranzukommen.

Etwa 19 Meilen (31 km) südlich vom Startgelände des Marathons hielten wir ein weiteres Mal an und sahen die erste von mehreren alten Brücken, die für diese Region typisch sind. Sie ähnelte sehr der Bixby Bridge, die nicht nur die Halbmarathon-Marke darstellt, sondern auch Wahrzeichen des Marathons und Motiv auf der Finisher-Medaille ist. Hierbei handelte es sich jedoch um die Big Creek Bridge, die in den 1930er Jahren erbaut wurde.

9,7 Meilen (15,5 km) vor unserem ersten Tagesziel folgte abermals eine kurze Pause, um weitere Postkarten-Fotos zu schießen. 7 Meilen weiter wünschte sich mein Vater ein Foto an einer der Amerika-typischen Briefkasten-Reihen, die von Zeit zu Zeit am Straßenrand zu sehen waren. Nach zwei Schnappschüssen fuhren wir schnell weiter und entdeckten 1 Meile vor Big Sur Station das Schild des Pfeiffer Big Sur National Parks. In genau diesem Nationalpark sollte am Sonntagmorgen der Startschuss fallen und so stieg die Vorfreude auf die offizielle Marathonrennstrecke ein weiteres Mal.

Zwei Minuten später war es soweit: Ankunft an der Big Sur Station, dem Startgelände des Big Sur International Marathons. Obwohl wir mit ersten Vorbereitungen gerechnet haben, waren wir doch sehr überrascht, als wir die extrem langen Dixi-Klo-Reihen gesehen haben. So viele Dixis habe ich noch nie gesehen, obwohl ich schon bei größeren Marathons gestartet bin. Das ließ auf kurze Warteschlangen am Sonntagmorgen hoffen ;-)

Nach einer kurzen Pause und diversen Fotos von Dixi-Klos folgte die eigentliche Streckenbesichtigung, auf die ich mich schon die ganze Zeit gefreut habe. Gleichzeitig war ich sehr nervös, denn im Laufe der folgenden 26,2 Meilen (42,195 km) wollte ich mir jeden Anstieg der hügeligen Strecke genau anschauen und mir auf dieser Basis eine Zielzeit und eine Renntaktik überlegen. Ich hatte Respekt und war doch überglücklich, diese atemberaubende Straße nicht nur fahrend, sondern vor allem auch laufend erleben zu dürfen! Die anfangs angekündigte Gänsehaut meldete sich auf ein Neues! Jetzt geht’s los!

Da während des Marathons keine Zuschauer auf oder neben der Strecke sein durften, wollte meine Family im Ziel auf mich warten. Dadurch fehlen mir Marathon-Lauffotos vom Streckenrand.  Ich möchte die Fotos unserer Streckenbesichtigung somit noch nicht jetzt zeigen, sondern in den eigentlichen Laufbericht mit einfließen lassen (siehe unter „Der Lauf“). Also weiterlesen ;-)

 

Abends erreichten wir kurz vor Sonnenuntergang unser Motel in Seaside, etwa 10 Autominuten von der morgigen Marathonmesse entfernt. Nachdem wir in unser Zimmer eingecheckt haben, sind wir nebenan in ein Kantinen-ähnliches Restaurant gegangen, wo ich mir eine Portion Pasta mit Garnelen gegönnt habe. Danach ging‘s müde aber glücklich zurück ins Motel, wo wir früh in unseren Betten gelandet sind und noch ein wenig mit unseren Liebsten in Deutschland gechattet haben.

Samstag, 25.04.2015

Am Samstagmorgen sind wir gegen 8 Uhr aufgestanden und haben uns unser Frühstück in der winzigen Rezeption abgeholt und im Zimmer gegessen. „Breakfast included“ nennt sich sowas - merkwürdig, aber okay. Da es nur Müsli mit Milch und überzuckerten Kuchen gab, ist meine Schwester noch schnell zum Safeway Supermarkt nebenan gelaufen und hat Toast geholt. So war mein Frühstück für Sonntag auch schon gesichert, da wir noch Käse, Frischkäse und Marmelade im Kühlschrank hatten - super!

Kurz vor 10 Uhr machten wir uns auf den Weg nach Monterey zum dortigen Conference Center, wo die Marathon-Expo und Startnummern-Ausgabe stattfanden. Einen kostenfreien Parkplatz fanden wir leider nur ein paar hundert Meter entfernt, aber das hielten meine Füße noch aus. Lange Fußwege am Tag vor einem Marathon sind körperlich kein Problem, aber für den Kopf ganz schön nervig. Das wusste ich zwar und dennoch suchte ich nach ersten Wehwechen. Typisch Marathoni!

Auf der überschaubaren Marathonmesse haben wir am Anfang ein großes Big Sur Marathon Plakat entdeckt, auf dem alle Namen aller Teilnehmer alphabetisch verzeichnet waren. Meine Mutter entdeckte mich als Erste und das obligatorische Foto mit Fingerzeig war schnell im Kasten. Danach klapperten wir die erste Hälfte der Stände im Erdgeschoss ab, bevor ich mir am Asics-Stand ein Armband mit meinen 5-km-Durchgangszeiten abgeholt habe. Als Zielzeit habe ich 03:10:00 Stunden genannt, was mein Mindestziel sein sollte. Viel lieber wollte ich 02:59:59 Std. laufen, was ich mir trotz der schwierigen Strecke immer noch zutraute.

Im 2. Stock holte ich anschließend meine Startunterlagen ab, wofür ich unter anderem meinen Ausweis vorzeigen musste. Um daraufhin mein gewünschtes Busticket für den morgigen Shuttle-Bus zu bekommen, hat es etwas Überredungskunst gekostet. Die ältere Dame verteilte die verschiedenen Bustickets nämlich je nach Unterkunft, in der die Läufer am Wochenende untergebracht waren. Dementsprechend gab es 5 Abfahrtsorte für Busse, die zum Marathonstart fuhren: 2 x in Monterey, 2 x in Carmel und 1 x in Seaside am Embassy Suites Hotel. Der letzte Ort war fußläufig nur 10 Minuten von unserem Motel entfernt und nur für Läufer gedacht, die in den „guten“ und teureren Hotels in Seaside wohnten. Als die Dame aber hörte, dass ich gern eine halbe Stunde länger schlafen wollte, um mir den womöglich stressigen Weg in die Innenstadt zu sparen, ließ sie sich erweichen und gab mir das lilafarbene Ticket. Sie fügte noch hinzu, ich solle dem Busfahrer sagen, ich sei im „La Qunita Inn“ untergebracht. No problemo! :-)

Wieder im Erdgeschoss holte ich mein rotes langärmeliges Asics Big Sur Shirt ab, auf das ich schon stolz war, bevor ich den Lauf überhaupt beendet habe. Aber das darf man auch sein ... glaube ich. Bevor es mit dem Bummeln weiterging, hat meine Family noch ein Foto von mir und meiner Startnummer vor der offiziellen Big Sur Fotowand geschossen. Unter anderem besuchten wir den Stand von Michael Martinez, der seit nunmehr 12 Jahren jedes Jahr bei der Halbmarathonmarke an seinem großen Flügel sitzt und für die Läufer seine Stücke spielt. Auch darauf freute ich mich sehr, denn viele Big Sur Finisher berichten von den schönen Klavierklängen, die je nach Windrichtung aus bis zu 2 Kilometer Entfernung zu hören sind.

Gegen 11:30 Uhr entschied ich mich dazu, mir doch noch ein zusätzliches Andenken an den Big Sur Marathon zu kaufen. Da die Laufshirts und Jacken aufgrund des schlechten Euro-Dollar-Kurses relativ teuer waren, fiel meine Wahl auf kurze Asics Socken mit der Aufschrift „Big Sur“. Diese möchte ich vor allem auf Wettkämpfen zu meinen Kompressionsstrümpfen anziehen - so als Zusatz-Motivation sozusagen ;-)

Anschließend haben wir die Expo verlassen, haben das Auto auf einen zeitlich unbegrenzten Parkplatz geparkt und sind zum Hafen von Monterey gegangen. Dort spazierten wir ohne Zeitdruck über den Pier und entlang des Hafens und genossen trotz starkem Wind die Sonne. Nachdem wir auf einer Parkbank gechillt und Chips gegessen haben (Ohh, Sünde!), zog es uns wieder Richtung Fußgängerzone und Messegelände. Während ich zum Mittagessen zusätzlich zu den Chips noch einen Apfel gegessen habe, gönnte sich meine Family süße Crêpes.

Kurz vor 15 Uhr ging‘s dann wieder zur Messe, wo ich sehr gern Dean Karnazes - den „Ultramarathon-Man“ - treffen wollte. Dieser sollte um 16 Uhr einen Vortrag halten und es gelang uns, ihn schon kurz nach 3 am Runner’s World Stand zu treffen. Ein lang gehegter Läufertraum ist für mich damit in Erfüllung gegangen, denn was dieser Mann schon alles geleistet hat, ist kaum vorstellbar. Er hat nicht nur den legendären Badwater Ultramarathon im Jahr 2004 gewonnen, sondern hält mit 560 km in 80:44 Stunden auch den Weltrekord im ‚Laufen ohne Pause‘. Dem europäischen Publikum ist er durch die „North Face Endurance 50“ Challenge im Jahr 2006 bekannt geworden, als er 50 Marathons an 50 aufeinander folgenden Tagen in allen 50 Bundesstaaten der USA gelaufen ist. Zudem ist er ein erfolgreicher Buchautor und Motivator. Einfach Wahnsinn, diesen Mann einmal live getroffen und ein paar Worte mit ihm gewechselt zu haben! Nach einem Foto mit ihm, wünschten wir uns gegenseitig viel Erfolg & Spaß für den morgigen Tag!

Kurz vor 16 Uhr ging es dann zurück zum Motel, wo ich mich etwas müde ins Bett legte, um die Beine zu schonen. Meine Family ist stattdessen ganz vorbildlich ein paar Kilometer entlang der windigen Küste laufen gegangen und konnte schon ahnen, was mich am Sonntag erwarten würde.

Gegen 19 Uhr waren dann alle wieder geduscht und ausgeruht, sodass wir zurück nach Monterey zum Abendessen fahren konnten. Schon tagsüber haben wir uns dort 2-3 Locations ausgesucht, wo „natürlich“ einigermaßen günstig Pasta angeboten wurde. Unsere Wahl fiel auf das „Caffe Trieste“, in dem an diesem Samstagabend überraschenderweise Live-Musik gespielt wurde - ein riesen Pluspunkt, wie wir fanden. Da lohnte sich auch das kurze Warten auf einen freien Tisch, denn das kleine Café war sehr gut besucht. Bevor uns ein paar Gäste einen kleinen Tisch freimachten, sorgte ich für einen kurzen „Wow!“-Moment unter den Besuchern. Die beiden Musiker, die auf ihrem elektronischen Banjo und dem Kontrabass irisch angehauchte Musik spielten, fragten in die Runde, wer denn zum Pasta-Schaufeln hergekommen sei. Die Hälfte der Gäste zeigte auf. Die zweite Frage war, wo denn diese Läufer herkommen. Eine Person rief „Florida“ ... es folgte etwas Ähnliches wie: „hmm, not bad“. Eine Frau, die am Fenster saß, rief nach einer kurzen Pause „Canada“ ... die ersten zwei-drei Leute hörte man „Wow“ sagen. Und als ich nach einer weiteren Pause „Germany“ rief, war das „Wow!“ vieler Gäste noch deutlicher und lauter. Der jüngere Musiker fragte mich daraufhin, ob ich denn auch den ganzen Marathon laufen würde und wie ich hergereist bin. Ich bejahte seine Frage mit „Yes, of course!“ und streckte meine Arme wie zwei Flugzeugflügel aus. Das war bei dem Lärm die einfachste Art zu zeigen, dass wir geflogen sind :-)

Vielleicht war diese Szene auch der Grund, warum wir nur kurze Zeit später einen kleinen Tisch bekommen haben, den andere Gäste von ihrem eigenen beiseitegeschoben haben. An dieser Stelle kann ich die Chance nutzen und bestätigen, dass viele Amerikaner in vielen Alltagssituationen wesentlich freundlicher und offener sind, als wir Europäer. Daumen hoch!

Nach zwei Tellern Pasta für je 8-9 $ (einmal Penne mit Pesto und einmal Spaghetti mit Tomatensauce) war ich satt. Genau richtig: nicht zu viel und nicht zu wenig! Meiner Family reichte jeweils ein Teller Pasta und so machten wir uns nach gut einer Stunde gut gelaunt auf den Weg zurück zum Motel. Dort lag ich bereits um 21 Uhr im Bett und war positiv gestimmt, was den Tag X betraf. Mir tat nichts weh, ich war gut gesättigt, voller Vorfreude und müde genug, um trotz Aufregung entspannt schlafen zu können.

Sonntag, 26.04.2015

Vorher

Um 03:10 Uhr klingelte der erste von mehreren Weckern und ich brauchte diesmal tatsächlich nur diesen einen, um auf die Beine zu kommen. Nach wenigen Minuten war ich angezogen und frühstückte etwas von dem weichen Toast, den meine Schwester am Vortag gekauft hat. Da ich immer noch satt vom Pasta-Abend war, brauchte ich nicht viel, und so machten wir uns um 03:45 Uhr mit dem Auto auf den Weg zum Embassy Suites Hotel.

Dort angekommen sah man schon mehrere große Reisebusse, die wie in einer Warteschlange vor der Rezeption des Hotels standen. Eigentlich hatte ich mit den typisch amerikanischen gelben Schulbussen gerechnet, allerdings war es wohl das Privileg der etwas reicheren Hotelbesucher, in einem bequemen und vor allem warmen Bus zum Startpunkt des Marathons zu reisen. Zugegebenermaßen war ich etwas enttäuscht, dass ich nicht mit solch einem Schulbus gefahren bin, denn auch das war ein kleines Highlight des Big Sur Marathons. Außerdem passten meine wärmenden Klamotten absolut nicht zu den Jacken und Hosen der anderen Läufer. Gegen die Kälte (+/- 0°C) hatte ich mir eine uralte Jogginghose, ein altes Arbeitshemd meines Vaters und eine ebenso alte Wollmütze über mein Lauf-Outfit gezogen. Offiziell hieß es, dass wir im Startbereich bis zu 2 Stunden im Freien warten müssten, ehe der Start erfolgt. Nunja, ich war vorbereitet und die Meinung der anderen interessierte mich zu dieser Uhrzeit und im Dunkeln natürlich herzlich wenig.

Pünktlich um 04:00 Uhr morgens (oder nachts!?) habe ich mich von meiner Family verabschiedet, ihr noch eine gute Nacht gewünscht, und mich dann in den warmen Bus gesetzt. Sofort kippte ich meine Rückenlehne nach hinten, verschränkte meine Arme und schloss die Augen. Entspannen und Genießen standen auf dem Programm. Kurze Zeit später setzte sich der Bus in Bewegung und rollte Richtung Highway 1. Dank der Größe des Reisebusses war die Fahrt über die hügelige und kurvige Strecke, die wir nachher zurücklaufen müssen, relativ entspannt. Das Licht war fast ausgeschaltet, die Gespräche der anderen waren nur leises Flüstern und ich konzentrierte mich auf die kommenden Stunden - perfekt!

Etwa 10 Minuten vor Erreichen des Startgeländes sah ich in Kurven die lange Busschlange vor uns. Wahnsinn, wie lang sie war, und hinter uns war diese sicher nicht viel kürzer.

Kurz vor 05:00 Uhr blendeten uns plötzlich große Leuchtstrahler, die rechts und links der Straße standen. „Was war das?“ fragte ich mich. Die Antwort kam nur 3 Minuten später, als der Bus in einem engen Wendekreis um 180° drehte und auf dem Highway 1 wieder zurück Richtung Norden fuhr. Wir hatten also soeben den Marathonstart passiert. Weitere 3 Minuten später kamen wir dann wieder an demselben Punkt an und wurden raus gelassen. Nun standen mir 1,5 Stunden in einer Kälte von ca. 5°C bevor. Aber nicht nur ich war der Leittragende, sondern insgesamt 4.500 Einzelkämpfer und diverse Staffel-Teilnehmer. Geteiltes Leid war auch hier halbes Leid!

Wie ich vermutet hatte, war ich nicht der erste, sondern sogar einer der letzten Teilnehmer, die den Startbereich an der Big Sur Station erreichten. Entsprechend voll waren bereits die Bordsteinkanten und Asphaltflächen zwischen den Dixi-Klos. Ich ging an den grünen Klo-Häuschen entlang, bis ich in der hintersten Ecke noch einen Platz auf einem Bordstein fand. Die Männer und Frauen um mich herum waren interessant anzusehen: viele tranken Kaffee und aßen Bagels und Bananen, einige hörten Musik oder versuchten zu schlafen, wieder andere (vor allem Frauen) unterhielten sich ganz aufgeregt ohne Punkt und Komma. Ich hingegen war Beobachter und Genießer. Ich versuchte möglichst viele Impressionen aufzusaugen. So sah ich zum Beispiel eine junge Frau Yoga-Übungen machen, eine andere wiederum war mit extrem viel Hightech und Sportlernahrung am Körper ausgestattet und der etwa 35-jährige Typ, der neben mir saß, zog sich viel zu früh seine wärmende Hose aus und zitterte wie verrückt. All diese unterschiedlichen Charaktere lenkten ab und nahmen wir etwas Nervosität. Außerdem waren nun deutlich mehr „Schlecht-Gekleidete“ um mich herum und ich fühlte mich wohl.

Um alles auszunutzen, was ich in meinem Kleiderbeutel dabei hatte, zog ich mir noch zusätzlich das Regen-Cape über, das mich vor der leichten Brise schützen sollte. Leider suchte ich anfangs vergebens nach meinen weißen Einmal-Handschuhen, die mir mein Vater ebenfalls von der Arbeit mitgebracht hat. Naja egal! Dann endlich Beine angewinkelt und umschlungen, Kinn auf die Knie, Augen zu und die Minuten verstreichen lassen.

Etwa 45 Minuten vor dem Start habe ich noch einen letzten Schluck aus meiner Wasserflasche genommen und meine mitgebrachte Banane gegessen. Wenig später ging ich zu einer möglichst kurzen Warteschlange vor ein paar Dixi-Klos und erledigte, was zu erledigen war. Danach war ich auch für die letzten Vorbereitungen  befreit genug: Schuhe richtig schnüren, Vaseline gegen Scheuern an die Innenflächen der Oberschenkel schmieren und Kleiderbeutel abgeben. Damit dieser nicht zu leer wirkte, habe ich noch meine Hose mit reingestopft, obwohl diese als „Wegwerf-Hose“ dienen sollte.

Während um 06:20 Uhr zunächst alle Läufer mir einer Zielzeit von 04:45 Stunden oder langsamer in den hintersten Startblock gebeten wurden, verschwand ich doch nochmal kurz im Gebüsch, da ich scheinbar etwas viel getrunken hatte. Gegen 06:30 Uhr wurden dann auch die Läufer mit einer Zielzeit von 03:45 bis 04:45 Stunden aufgerufen, ihren mittleren Startblock einzunehmen. Und auch hier wollte der Strom an Läufern einfach kein Ende nehmen. Derweilen unterhielt uns eine Gruppe aus mehreren Moderatoren  und versorgte uns mit interessanten Infos zum Big Sur International Marathon, der Strecke und einigen Top-Läufern. Es hat Spaß gemacht, den vielen Informationen zu folgen, und doch kann ich mich nicht mehr an Details erinnern. Naja, egal.

Der Absperrzaun direkt neben der Startlinie diente mir in den letzten 10 Minuten vor dem Start als nützliche Dehnhilfe. Außerdem konnte ich mir die Favoriten des heutigen Rennens genauer anschauen, denen es erlaubt war, sich vor der Startlinie entspannt aufzuwärmen. Unter anderem starteten die beiden Sieger der Jahre 2013 und 2014, was zu einem spannenden Duell führen könnte. Übrigens gibt es beim Big Sur Marathon kein Preisgeld, weshalb auch keine Afrikaner am Start sind.

Als um 06:43 Uhr immer noch kein Aufruf für die Läufer des ersten Startblocks erfolgte, ging ich eigens zu dem Absperrgitter hinter dem Startbanner und schlüpfte zwischen den Eisenstäben hindurch. Da macht sich meine Körpergröße doch mal bezahlt ;-)

Zuvor zog ich mir mein langes Hemd aus und hängte es an einem anderen Zaun außerhalb des Startbereichs auf. Die warme Mütze wollte ich ebenfalls wegwerfen, nur entdeckte ich zum Glück rechtzeitig, dass sich die weißen Handschuhe die ganze Zeit darin befanden. Na toll, ich hätte es wissen müssen. Mütze weggeworfen, Handschuhe angezogen, fertig!

Nun war es bereits 06:44 Uhr, die Sonne war bereits aufgegangen und doch blieb sie noch hinter den großen Redwood-Bäumen versteckt. Dank dieser Bäume und den Läufern rings um mich herum war es am Start noch recht windstill. Die Aufregung sorgte dennoch permanent für Gänsehaut! Von nun an kontrollierte ich alle paar Sekunden die Laufuhr, die mir meine Mutter für den Lauf geliehen hat. Meine eigene hat einen so schwachen Akku, dass sie nach zwei Dritteln der Strecke den Geist aufgegeben hätte.

06:45 Uhr - der Moderator kündigte endlich die amerikanische Nationalhymne an, sieben Soldaten marschierten vor das Teilnehmerfeld und verschiedene Flaggen wurden hochgehalten. Gleichzeitig entdeckte ich weit über unseren Köpfen eine kleine Drohne mit Kamera und winkte natürlich kurz nach oben. Und dann war es soweit: Noch mehr Gänsehaut durch die Nationalhymne, die Myles Williams - ein älterer Herr mit tiefer Stimme - live gesungen hat. Einige Läufer sangen mit, viele hielten ihre rechte Hand am Herzen und die allermeisten schlossen einfach nur die Augen und genossen es. Auch ich stand eher regungslos da und atmete tief ein und aus.

Tiefenentspannter Genuss während ich in der dritten Reihe des Feldes stand, Wahnsinn-Gefühl ... aber kein Gefühlschaos zum Glück! Selten zuvor war ich vor einem Wettkampf so entspannt wie hier. Sicher lag das an meinen niedrigen Ambitionen, denn in erster Linie wollte ich diesen Marathon genießen, egal wann und bei welchem Kilometer, egal ob bergab oder gar bergauf, alles egal ... Hauptsache genießen!

Um 06:48 Uhr fiel nach einem 10-sekündigen Countdown mit etwas Verspätung endlich der lang ersehnte Startschuss. Der 42,195 Kilometer lange Genuss wurde uns freigegeben! Wie viel das in Stunden, Minuten und Sekunden werden würde, war mir zunächst noch egal. Hauptsache frei! Endlich frei!

Der Lauf

Nach nur 2 Sekunden überquerte ich die Startmatte und hörte ein sehr leises Piepen. Bei kühlen 5°C und Windstille flog ich den ersten 20 Männern hinterher. „Fliegen“ ist beinahe wörtlich zu nehmen, denn die Strecke fiel auf den ersten 5 Meilen (8 km) stetig ab und ich musste nicht viel tun, um schnell von der Stelle zu kommen. Die gesamte Breite der asphaltierten Straße, lang gezogene Kurven und nicht zuletzt die hohen Mammutbäume rechts und links wirkten erschlagend auf mich! Und doch fühlte ich mich unbesiegbar! Besonders als die Uhr nach 1 km und 03:43 min das erste Mal piepte. Eigentlich schon jetzt 30 Sekunden zu schnell, aber es war trotzdem ein geiles Gefühl! Und nur für diese Gefühl mache ich das Ganze ja - also abhaken weiter genießen!

Auf der ansonsten noch menschenleeren Straße durch den Pfeiffer Big Sur State Park genoss ich vor allem die Ruhe vor dem Sturm. Mit Sturm meine ich hier den Gegenwind, der uns aller Voraussicht nach ab KM 8 erwarten würde. Somit spulte ich das erste Fünftel praktisch ohne Hindernisse ab. Nach KM 2 in 04:01 min und KM 3 in 03:56 min passierten wir auf der linken Seite eine erste Zuschauer-Gruppe, die womöglich zum nahegelegenen Riverside Campingplatz gehörte. „You look great!“ und „Good job!“ wurde erstmals gerufen ... und es sollte nicht das letzte Mal bleiben.

Auf dem nächsten Abschnitt (KM 4 in 03:43 min und KM 5 in 03:50 min) orientierte ich mich sehr stark an meiner Konkurrenz, da ich möglichst wenig allein laufen und viel lieber mit zwei-drei gleichschnellen Läufern zusammenarbeiten wollte. Leider hat einer von ihnen seine Geschwindigkeit so sprunghaft gewechselt, dass er kurzerhand 50 Meter vor uns lag und dennoch im Schnitt genauso schnell lief. Die restlichen Läufer waren indessen weit vor und weit hinter uns Dreien verteilt.

Nach einem ersten 5-km-Abschnitt in viel zu schnellen 19:12 min folgte am linken Streckenrand eine erste musikalische Ablenkung in Form einer kleinen Vintage Jazz Band. Symbolisch stand diese Band auch für das Erwachen des Tages, denn so langsam wurden die Bäume weniger und kleiner, während es gleichzeitig heller, wärmer, windiger und lauter wurde. Als bei KM 6 (03:53 min) in der Nähe des Andrew Molera State Parks dann auch erstmals das Meer zu sehen war, drehte ich mich kurz zu meinen beiden Mitstreitern und sagte: „Don’t forget to enjoy!“ ... die Antwort war ein motiviertes „Yeah, sure!“ und ich war glücklich, dass der Genuss nicht nur für mich weiter an erster Stelle stand.

Die vorerst letzten beiden Bergab-Kilometer (KM 7 und KM 8 beide in 03:48) führten zwischen grünen Sträuchern und unter hellblauem Himmel hindurch. Der Wind blies mäßig von vorn, aber der Windschatten meiner beiden Kontrahenten schützte mich noch recht gut. Als wir die erste Kontrollmessmatte bei Meile 5 (= 8 km in 30:29 min) überquerten, fragte mich der eine von beiden, welches Ziel ich für heute hätte. Meine Antwort lautete „06:50 per mile“, was einer Endzeit von exakt 02:59:00 Stunden entspricht. Er antwortete nur etwas mit „06:15“. Ohje, wollte er tatsächlich so viel schneller laufen als ich? Faktisch hatte er aber Recht, denn unser Tempo lag derzeit bei 06:06 min/Meile. Ich ahnte somit schon, dass wir früher oder später getrennte Wege gehen (oder laufen) müssen.

Auf der langen flachen Geraden bis zum 10. Kilometerpunkt, der neben den Meilen-Schildern auch als solcher ausgeschildert war, bekamen wir dann endlich die volle Bandbreite des Gegenwindes zu spüren. Windschatten war kaum noch von Vorteil. Gleichzeitig überraschte mich dieser Abschnitt durch seine Schönheit, denn rechts und links der Strecke waren grüne Wiesen und Felder, der Abstand bis zum Ozean und zu den Bergen war gleichermaßen groß und praktisch keine Wolke war am Himmel. Bilderbuchlandschaft! Motivation pur, um trotz Gegenwind KM 9 in 03:56 min und KM 10 in 04:06 min zu laufen (10-km-Durchgangszeit von 38:43 min).

Aber nach den ersten 10 km war dann doch Schluss mit Lustig und die ersten Steigungen standen uns bevor. Im starken Gegenwind ging es über die wellige, aber meist leicht ansteigende Straße auf Point Sur zu. Point Sur ist eine kleine Halbinsel mit einem Leuchthaus (kein Leuchtturm!), die wir schon vor zwei Tagen auf unserer Streckenbesichtigung gesehen und im Vorbeifahren fotografiert haben. Während des Laufes diente die Halbinsel nur kurz als Ablenkung, denn ansonsten galt meine Konzentration weiter den ansteigenden Metern.

Nach KM 11 in 04:12 min und KM 12 in 04:06 min näherten wir uns dann auch endlich dem Ozean, was nicht hieß, dass es flacher wurde. Im Gegenteil: Die Bergauf- und Bergab-Passagen wurden vorerst kurzweiliger und so wurde es schwieriger, einen gleichen Rhythmus zu wahren. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass genau diese Wechsel besonders viel Spaß gemacht haben. Entsprechend des Streckenprofils wechselten sich auch „Anstrengung“ und „Erholung“ miteinander ab. Während ich auf flach (KM 13) exakt 04:00-min-Schnitt halten konnte und bergauf (KM 14 in 04:13 min) kämpfen musste, ließ ich die Beine danach einfach ausrollen (KM 15 in 03:42 min) und spulte den dritten 5-km-Abschnitt in 20:13 min ab. All das sind Zahlen, die ich nach dem Lauf in der Auswertung der GPS-Uhr nachlesen konnte, aber während des Marathons nicht so genau wahrnahm. Es zählte nur die Natur um mich herum, die ich mal unter Anstrengung und mal erholsam genießen durfte.

Für zusätzliche Motivation sorgten nach dem ersten Drittel der Distanz die langsamsten Läufer des 21-Meilen-Rennens. Dieses wurde 15 Minuten vor dem Marathon und 4,2 Meilen näher am Ziel gestartet, sodass die schnellen Läufer uneinholbar für uns waren. Die langsamen Läufer hingegen legten so viele Foto-Stopps und Gehpausen ein, dass wir viele von denen recht schnell hinter uns lassen konnten. So manch ein Neugieriger drehte sich sogar um, als unsere schnellen Schritte von hinten hörbar wurden. Sofern die Teilnehmer dann meinen Namen auf der Startnummer lesen konnten, folgte noch ein motivierender Spruch hinterher: „You look great, Patrick, keep going!“

Diese Art des Anfeuerns gefiel mir richtig gut und ab und zu antwortete ich mit einem Daumen-Hoch oder einem kurzen „You too!“. So viel war ich ihnen schuldig. Und auch den Musikbands, die nun immer häufiger am Streckenrand standen und zum Teil richtig gute Rock- und Jazz-Musik machten, dankte ich hier und da mit einem kurzen Winken oder Daumen-Hoch.

Durch die vielen Läufer, Musiker und die gelben Schulbusse, die z.B. die Staffelteilnehmer zu ihren Wechselzonen gebracht und am Straßenrand geparkt haben, wurde die unberührte Natur der Big Sur Region bunt aufgemischt und belebt. Zu dem vielen Blau des Pazifiks, dem Grün der Berge und dem Grau des Asphalts gesellten sich kunterbunte Körper, die wie an einer Perlenkette vor mir herliefen. Und all diese Läufer vor mir galt es, auf den letzten zwei Dritteln des Marathons einzuholen. Also weiterkämpfen!

Auch der 16. Kilometer der Strecke war wieder abfallend und dementsprechend schnell (03:39 min), nur wusste ich an diesem Punkt (Meile 9,8), dass der vorerst tiefste Punkt der Strecke erreicht war. In einer langen Rechtskurve bogen wir - immer noch zu dritt laufend - ganz kurz ins Landesinnere ein. Dort blickten wir in die stark blendende Sonne, die uns ansonsten überwiegend von hinten rechts anstrahlte und hinter so manchem hohen Berg erst gar nicht hervorkam. Erst als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnten, sah ich vorne links eine große Menschengruppe, die sich als zweite Staffel-Wechselzone herausstellte. Außerdem waren erste Trommel-Rhythmen hörbar, die perfekt im Lauftakt spielten. Diese wurden immer lauter und dann sah ich nach einer scharfen Linkskurve am linken Streckenrand eine große Gruppe von japanischen Paukenschlägern - die Watsonville Taiko Drummers. Aus meiner Recherche im Vorfeld des Marathons wusste ich, wie ich deren Rhythmus aufnehmen und umsetzen muss. Denn bei Meile 9,8 fing DER echte Anstieg erst an: auf zum „Hurricane Point“!

Unter dem Hurricane Point versteht man beim Big Sur Marathon den höchsten Punkt der Strecke, der 170 Meter (560 ft) über dem Meeresspiegel liegt. Nach Überlaufen der Zeitmessmatte bei Meile 9,8 (nach 01:01:46 Std.) auf einer Höhe von nur 12 Metern über dem Meer fing der gut 3 Kilometer lange Anstieg endlich an. Die Paukenschläge pochten noch einige Zeit in meinem Kopf und Körper nach, doch der Zeitpunkt war dennoch gekommen, dass ich von meinen beiden Kontrahenten abreißen lassen musste. Sie verschwanden schnell in der bunten Gruppe der langsamen 21-Meilen-Läufer und ich musste von nun an alleine beißen und kämpfen. Das ich nun praktisch den Berg vor meiner Nase hatte, wehte auch der Wind deutlich weniger. Der Anstieg gewährte mir also eine Art Windschatten und erleichterte mir das Laufen, wenn man überhaupt davon sprechen kann.

Mit KM 17 in 04:35 min und KM 18 in 04:32 min waren die bisher langsamsten Kilometer des Tages absolviert. Während viele Läufer um mich herum schnaufend gehen oder gar stehen bleiben mussten, konnte ich unerwartet gut weiterlaufen. Das Schnaufen blieb bei mir aber auch nicht aus und die Oberschenkel fingen zu Brennen an. Als Belohnung für die Strapazen diente der zunehmend schönere Ausblick auf das raue Meer und den habe ich mir nicht nehmen lassen. Trotz hoher Konzentration auf den Asphalt und mögliche Hindernisse wie z.B. Pylonen, gönnte ich mir von Zeit zu Zeit einen kurzen Blick nach links. Das musste sein, denn von der Gegend konnte ich nicht genug kriegen.

Auf dem letzten Anstiegs-Kilometer merkte ich aber früh, dass es flacher wurde und mein Körper wieder ein wenig entspannen konnte (KM 19 in 04:18 min). „War’s das jetzt? Hab ich’s geschafft?“ - Obwohl mich noch viele kleinere Anstiege erwarteten, war ich kurze Zeit überglücklich, dass ich mich von nun an als „Hurricane Point Survivor“ bezeichnen darf.

Nach dem letzten Rechtsknick der kurvenreichen Bergauf-Passage war sie endlich zu sehen: die Bixby Bridge! Der Ausblick auf das 2 km entfernte Wahrzeichen des Big Sur International Marathons war umwerfend. Am Freitag hatte ich schon mit meiner Family die Möglichkeit, diesen Ausblick länger zu genießen, doch auf dem flotten Weg Richtung Halbmarathonmarke blieb mir nur wenig Zeit für’s Gucken.

In großen Schritten ging es für mich auf die nächste Verpflegungsstation bei KM 19,6 (Meile 12,2) zu, an der erstmals Energiegels der Marke GU verteilt wurden. Ich entschied mich dagegen, da ich den Verzehr solcher Gels im Training nie geprobt habe und viel lieber auf die körperlichen Reserven zugreifen möchte. Außerdem kühlte der erneute Gegenwind meinen Körper so gut, dass ich mich trotz vieler Kilometer doch wieder recht frisch fühlte. Die beiden abfallenden Kilometer Richtung Halbmarathon spulte ich in 04:03 min und 03:49 min ab. Es fühlte sich wieder richtig gut an und die Vorfreude auf das Überqueren der Bixby Bridge stieg wieder spürbar an. Spürbar, weil Gänsehaut! Ganz einfach!

Erst mit Betreten der Bixby Bridge hörte ich den ersten Ton des Klaviers und daraufhin auch die ganze Melodie, die ich nicht zuordnen konnte. Es musste ein eigenes Stück sein, das Michael Martinez auf dem kleinen Parkplatz direkt hinter der Brücke spielte. Während ich in der Innenkurve der Brücke lief, wurde die Melodie immer lauter und dann sah ich auch schon die zwei Lautsprecher, die in beide Richtungen der Straße zeigten. Den berühmten Big-Sur-Klavierspieler habe ich jedoch übersehen, da sich viele andere Läufer um ihn herum tummelten und Fotos und Selfies schossen. Ich wollte nicht abbremsen und mich nochmal umschauen und so blickte ich weiter nach vorn. Die Melodie in den Ohren musste reichen, da brauchen die Augen nicht auch noch was sehen.

Der nächste, etwa 3 km lange Abschnitt schlängelte sich leicht abfallend Richtung Rocky Point, wo die 10,6-Meilen-Läufer morgens um 07:00 Uhr gestartet sind. Während die Halbmarathonmarke (KM 21,1 nach 01:25:10 Std.) hinter der Bixby Bridge auf einer Meereshöhe von 84 Metern lag, befand sich Rocky Point 25 Meter tiefer. Das ist zwar nicht viel, aber doch spürbar (KM 22 in 03:56 min und KM 23 + 24 je in 04:03 min).

Unterwegs überquerten wir bei KM 22,4 eine weitere Brücke - die Rocky Creek Bridge. In der Architektur und Schönheit ähnelte sie der Bixby Bridge, war jedoch etwas kleiner und kürzer.

Zwischen KM 25 (in 04:09 min), wo eine erneute Zeitmessmatte lag, und KM 26 (in 04:09 min) gab es bis auf eine Classic Rock Band keine weitere Ablenkung, sodass ich wieder einen guten Rhythmus finden konnte. Das Meer, die wärmende Sonne und die vielen Mitstreiter versuchte ich kurzzeitig auszublenden. Allerdings gehörten die „langsamen“ 21-Meilen-Läufer bereits zu der Kategorie, die keine Gehpausen mehr einlegte. Es wurde also zunehmend härter, die vor mir Laufenden einzuholen.

Der leichte Anstieg zur Garrapata Bridge bei KM 27 (in 04:07 min), wo sich gleichzeitig die dritte Staffel-Wechselzone und fünfte Zeitmessmatte befand, war zum Glück kaum bemerkbar. Vielmehr spürte ich ab KM 28 (in 04:28 min), wie mein Körper zu meckern anfing und meine Kräfte langsam schwanden. Obwohl die Strecke im Großen und Ganzen flach zu sein schien, machten mir die sehr kurzen und knackigen Anstiege extrem zu schaffen. Bergauf lief ich nur noch 05:00-min-Schnitt, bergab war nicht mehr als 04:00 min/km möglich. Es war noch nicht der Mann mit dem Hammer und doch machten mir meine folgenden Kilometer-Zeiten mental etwas Sorgen (KM 29 in 04:21 min und KM 30 in 04:27 min).

Nachdem ich die 30-km-Marke in selbst gestoppten 02:01:35 Std. überquert hatte, entschied ich mich kurzfristig doch, mir bei der nächsten Versorgungsstelle ein GU Energiegel zu schnappen. Da bei Meile 18,7 die zweite und letzte Möglichkeit war, ein Gel am Wasserstand zu bekommen, zögerte ich nicht lange. Diesmal griff ich mir das erst beste Tütchen, riss mit den Zähnen eine Ecke auf, drückte mir zwei Drittel des süßen Glibber-Gels in den Mund und schluckte es runter. Rechtzeitig bevor der Verpflegungsstand endete, schnappte ich mir noch einen Becher Wasser aus der Hand eines netten Helfers und spülte meinen Mund ein wenig aus. Geschmeckt hat das Zeug schon mal - jetzt musste es nur noch wirken!

Um auch noch von dem letzten Drittel des Gels Gebrauch zu machen, behielt ich es in der Hand, bis ich kurz vor der nächsten Wasserstation bei Meile 20,2 war. Ein paar Meter davor presste ich mit beiden Händen den Rest in den Mund, warf das Tütchen weg und griff erneut zu einem Becher Wasser, um mir die Zähne sauber zu spülen. Es fühlte sich gut und richtig an, das Gel genommen zu haben, denn trotz welliger Strecke und langsamer Kilometer-Zeiten deutete sich wieder ein Aufwärtstrend an (KM 31 – 35 in 04:39, 04:35, 04:33, 04:27 und 04:26 min).

Dafür belohnte ich mich bei KM 34 ausnahmsweise mit einer Erdbeere statt des obligatorischen Wassers. Denn auch die Erdbeeren haben hier ihre Tradition, da sie meist im letzten Abschnitt des Rennens an zwei-drei Verpflegungstischen an die Läufer verteilt werden. Geschmeckt hat sie gut, nur greife ich demnächst doch lieber wieder zu Banane ... ist bekömmlicher.

Ein kurzes Stück hinter KM 35 lagen bei Meile 22 erneut Kontrollmatten, die meine Zwischenzeit registrierten (02:26:56 Std.). Gleichzeitig war das der Punkt, an dem die berühmt-berüchtigten Carmel Highlands ihren Anfang nahmen. Die bisher härteste & schönste „Zielgerade“ stand mir nun bevor!

Wenn man im Wörterbuch nach „Highlands“ sucht, stößt man unter anderem auf „Hochgebirge“. Hoch war es hier eigentlich nicht, aber „Gebirge“ könnte stimmen. Die letzten drei knackigen Anstiege des Big Sur Marathons waren unter den Läufern nämlich durchaus gefürchtet. Da der Körper ohnehin schon viel geleistet hat, kommen einem die mehrere hundert Meter langen Anstiege wie endlos hohe Berge vor. So auch mir!

Symbolisch wollte ich nun endlich meine weißen Baumwollhandschuhe loswerden, die meine Hände in den Morgenstunden gewärmt haben. Ärmel hochkrempeln sozusagen! Ich warf sie auf den linken Seitenstreifen in die Nähe eines Getränkestandes und spürte sofort eine erfrischende Kälte beiden Händen.

Nach Überqueren der Malpaso Creek Bridge ging es etwa einen Kilometer lang hinauf zum Yankee Point (KM 36 in 04:51 min). Dieser Anstieg kam mir länger vor, als der gesamte Weg zum Hurricane Point. Puuh! Und das war erst das erste Drittel der Carmel Highlands. „Was steht mir noch bevor? Werde ich noch einbrechen oder bleibt mir der Hammermann erspart? Wird das Energiegel noch wirken?“ … Fragen über Fragen ... positive Ablenkung fand ich nur in Form von viel Natur und vielen langsamen Läufern der anderen Distanzen, die ich noch einholen konnte. Leider mischten sich auch zwei-drei schnelle Burschen dazwischen, die mich auf dem langen Anstieg überholten. Als ich jedes Mal nervös nach links schaute, um die Startnummer zu erkennen, war mir klar, dass mich hier direkte Konkurrenten überholten. Lediglich ein Läufer rief mir kurz zu, dass er Staffelläufer sei … na immerhin.

Nach dem Anstieg folgte zum Glück ein langes und kurvenreiches Bergab-Stück, auf dem ich etwas entspannen konnte. Problemlos konnte ich KM 37 in schnellen 03:59 min abspulen und war überrascht darüber, wie gut ich mich noch fühlte. Da der zweite von drei Anstiegen ein recht kurzer war, konnte ich auch diesen schnell überwinden (KM 38 in 04:16 min) und befand mich dann auf dem Weg Richtung Point Lobos State Reserve.

Bei KM 39 (in 04:11 min) überquerte ich die letzte Kontrollmatte vor dem Ziel und machte mir erstmals bewusst, dass ich hier heute den schwierigen Marathon locker unter 3 Stunden beenden werde. Da ich meine Platzierung nicht kannte, nahm ich mir spontan ein anderes Ziel vor: Ich wollte vor der ersten Frau ins Ziel einlaufen, die mich zu dem Zeitpunkt noch nicht eingeholt hatte! Mein Vorhaben geriet erst hinter KM 40 (in 04:13 min) ein wenig ins Wanken, als der dritte Anstieg in den Carmel Highlands bevorstand. Über die Distanz von etwa 700 Metern ging es stets leicht bergauf und das spürte ich deutlich in den Beinen. Die kurvige Straße verließ nun wieder den Wald und der kühlende Schatten blieb hinter mir. Oben angekommen blickte ich auf die Laufuhr und sah, dass der 41. Kilometer der langsamste des Rennens war (04:52 min). Egal!

Mit Erreichen des letzten „Gipfels“ des Tages fielen die Strapazen von mir ab und ich spürte noch mehr Erleichterung und Vorfreude als nach dem Hurricane Point. Plötzlich war‘s mir wieder ganz egal, ob die beste Frau mich noch überholt oder nicht. Ich wollte mich auf keinen Fall ins Ziel quälen, sondern mit einem riesengroßen Lächeln ankommen!

Sobald KM 42 (in 04:14 min) erreicht war, legte ich dennoch etwas Tempo zu. Die Zuschauer wurden deutlich mehr und immer lauter und ich hörte alle paar Meter meinen Namen rufen: „Good job, Patrick!“ ... „Great!“ ... „Come on, you did it!“

YES, I did it! I ran Big Sur!

An der rechten Straßenseite sah ich unterschiedliche Landesflaggen und hörte schon deutlich den Ziel-Moderator. Der Applaus der Zuschauer pushte mich extrem und obwohl rechts und links von mir immer noch Läufer der kürzeren Distanzen waren, fühlte ich mich allein ... positiv allein! Am Straßenrand war zwar die Hölle los, doch ich war innerlich absolut ruhig. Ein ganz komisches Gefühl, das ich so noch nicht hatte. Der Grund war sicherlich auch, dass ich mir kein zu strenges Zeitziel gesetzt habe und den ganzen Marathon dadurch richtig genossen habe. GENUSS war auch auf den letzten Metern großgeschrieben!

Genießend streckte ich beide Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und streckte die Zunge raus. Dabei hatte ich kurzzeitig die Augen geschlossen. Diese Pose war nicht geplant, aber sie passierte einfach so!

Sobald ich die Pose 100 Meter vor der Ziellinie eingenommen habe, wurde das Publikum plötzlich lauter. JETZT kam der Lärm bei mir an! Ich blickte nach links und rechts und wollte meine Family entdecken, aber das war in dem bunten Chaos leider nicht möglich. Und trotzdem wusste ich, meine Liebsten sind da und sehen mich. Nochmal huschte mir ein Lächeln über’s Gesicht und ich wollte eigentlich nicht aufhören, durch diesen Zielkanal zu laufen.

Es war ein überwältigendes Gefühl, diesen (weltweit schönsten) Marathon gelaufen zu sein!

Mit meiner Dauer-Gänsehaut lief ich dann endlich über die letzte Zeitmessmatte des Tages: durch das Ziel! Nach einem leisen Piepen der Matte sah ich auf der Uhr 02:56:03 Stunden stehen! Tschakka - fast 4 Minuten schneller, als geplant ...

... und doch 3 Sekunden zu langsam ... typisch Läufer ;-)

Nachher

Nach einer kurzen Verschnaufpause hörte ich den Moderator plötzlich rufen, dass die erste Frau einläuft. Diese ist auf der zweiten Hälfte tatsächlich schneller als ich gewesen und kam mit nur 59 Sekunden Rückstand als Siegering ins Ziel. Respekt!

Daraufhin ging ich rüber zum linken Absperrzaun, wo meine Family nach mir rief und schon erste Fotos machte. Alle waren stolz auf mich und gratulierten mir. Meine Eltern sagten: „Das ist Wahnsinn! So eine schwere Strecke und so eine Zeit - wow!“ Und von meiner Schwester hörte ich ihr typisches „Super, Patrick!“, was ich in den letzten Monaten auf Wettkämpfen sehr vermisst habe.

Doch als ich anfangen wollte, von der Strecke zu erzählen, ist mir plötzlich etwas schwindelig geworden. Meine Augenlider wurden schwer und meine Mutter gab mir eine kleine Wasserflasche zum Trinken. Ein bis zwei Minuten später ging es mir dann wieder besser und ich erfuhr von meiner Family, dass ich voraussichtlich in den Top-20 gelandet bin. Genau wusste es keiner, weil es doch etwas durcheinander war, aber die Info reichte mir schon völlig aus, um noch glücklicher zu sein. Top-20 von über 4.500 Startern. Unfassbar cool!

Danach ging ich zur Medaillen-Vergabe, wo ich mir endlich meine bisher schönste Finisher-Medaille um den Hals hängen ließ. Ein wunderbares Gefühl, dieses einmalige Erinnerungsstück endlich gewonnen zu haben! Stolz und immer noch Gänsehaut pur!

Nachdem ich im Zielkanal ein-zwei Becher Iso getrunken habe, bin ich weiter Richtung Ausgang gegangen. Die Beine waren zum Glück noch einigermaßen funktionstüchtig, aber ich habe mir trotzdem Zeit gelassen. Direkt am Ausgang des Zielkanals ging man über in das Verpflegungszelt. Hier durfte ich mir ein großzügiges Lunch-Paket zusammenstellen, das am Ende aus folgenden, mehr oder weniger leckeren Dingen bestand: Weintrauben, einer Banane, einer Erdbeere, Brezen, Chips, Rosinen, einem Muffin, einem Cookie, Ananas-Orangen-Saft und Schoko-Milch. Bis auf die beiden Gebäckstücke schmeckte alles sehr lecker.

Da mir dann doch etwas kalt wurde, holten mir meine Eltern meine Jacke aus dem Rucksack. Danach gingen wir gemeinsam Richtung Bühne, wo eine Herrenband rockige Musik spielte. Unterwegs holte ich mir im Bierzelt ein alkoholhaltiges (!) Bier ab, auf das ich mich eigentlich sehr freute. Alkoholfreies Bier gab es komischerweise nicht. Doch leider war dieses so ungenießbar für mich, dass ich nicht mehr als die Hälfte schaffte. Schade drum!

Um nicht direkt vor der lauten Musik auf den vielen Stühlen zu sitzen, setzen wir uns ein Stück dahinter auf die Wiese. Dort bekam ich recht bald einen Krampf in der linken Wade und musste mich irgendwie anders hinlegen. Zwischenzeitig bin ich sogar kurz eingeschlafen, aber das war nach einer kurzen Nacht und der Anstrengung auch dringend nötig.

Bevor die Siegerehrung dann begann, holte ich mir noch einen Becher Tomaten-Suppe. Diese war neben dem Obst definitiv das Leckerste der gesamten Verpflegung!

Als die Gesamtsieger der Marathondistanz geehrt wurden, setzten wir uns weiter nach vorne auf die weißen Stühle und meine Schwester und ich übersetzten für unsere Eltern, was die Moderatoren jeweils über die einzelnen Sportler erzählten. Nach den Gesamtsiegern folgte die Ehrung der einzelnen Staffel-Kategorien. Da es davon recht viele unterschiedliche gab, dauerte es noch ca. 20 Minuten bis endlich die Altersklassen-Platzierten des Marathons auf die Bühne gebeten wurden. Die Einteilung und Wertung erfolgte nach exaktem Geburtsdatum und konsequent in 5-Jahres-Schritten, sodass ich als 24-Jähriger zu der Klasse M20-24 zählte. Da ich am Start kaum einen jüngeren Läufer vor mir gesehen habe, rechnete ich mir gute Chancen auf einen vorderen Platz aus. Zudem wurden hier sogar die ersten 5 einer Klasse geehrt, sodass ich mir sicher war, auf die Bühne gerufen zu werden.

Dann fing es an: Zuerst wurde der 5. meiner Altersklasse, der eine 03:26er-Zeit gelaufen ist, aufgerufen. Nach ihm der 4. mit einer 03:21er-Zeit und der 3. mit 03:17:55 ... und wie schnell war der Zweitplatzierte? Yes, er hat den Marathon in 03:01:25 Std. geschafft und lag somit gut fünf Minuten hinter mir. Somit konnte ich bei diesem großen Marathon mit immerhin 45 Läufern in meiner Klasse den Sieg der 20- bis 24-Jährigen einfahren - echt krass!

Als ich aufgerufen wurde, sagte der Moderator fälschlicherweise, ich käme aus Hopsten in Delaware. Natürlich korrigierte ich ihn, damit auch jeder wusste, wie weit unsere Anreise wirklich war.

Die Preise  für alle Altersklassen-Platzierten waren ein eckiger Pokal aus schwerem Plexiglas und ein ledernes Big Sur Lesezeichen. Zusätzlich zur Finisher-Medaille zwei sehr schöne Andenken - wie ich finde -, die sicher noch Platz im Koffer finden würden.

Nach meiner Ehrung und weiteren Glückwünschen von meiner lieben Family gingen wir zusammen zur Kleiderbeutel-Rückgabe und holten meinen fast leeren Plastiksack ab.

Nur kurze Zeit später waren wir dann schon auf dem Weg zum Auto und sind weiter Richtung Norden nach Santa Cruz gefahren, wo meine Eltern erstmals den Pazifischen Ozean berührten. Bevor es dann weiter nach San Francisco ging, chillten wir noch einige Zeit am Strand und spazierten über die Promenade, auf der ein ganzer Freizeitpark platziert war. Und auch hier knipsten wir wieder unzählige Fotos.

An dieser Stelle möchte ich mit meinem USA-Urlaubs- und Big-Sur-Marathonbericht enden. Die insgesamt 9153 Wörter und 142 Fotos sind zwar unheimlich viel, aber sie reichen nicht aus, um die Emotionen dieser 10 Urlaubstage und insbesondere die Schönheit des Big Sur International Marathons zu beschreiben.

Deshalb möchte ich 3 ganz besonderen Menschen mit 3 einfachen Worten dafür danken, dass WIR diesen USA-Urlaub zusammen erleben konnten und ich diesen atemberaubenden Marathon laufen durfte.

Das werde ich nie vergessen!

 

<3   DANKE  SPEEDY  FAMILY   <3

 

Zahlen & Fakten

Distanz

 

Gelaufene Zeit (Netto)

 

Gelaufene Zeit (Brutto)

 

Altersklasse

 

AK-Platzierung

 

Platzierung (Männer)

 

Gesamtplatzierung

42,195 km

 

02:56:03 Std.

 

02:56:05 Std.

 

Male 20-24

 

1. von 45 (2,2 %)

 

14. von 2167 (0,6 %)

 

14. von 4301 (0,3 %)